Die Sage vom ruhelosen Skjor

Aus den „Skaldenliedern“, des siebten Jahrhundert. Verfasser unbekannt.

„Es begab sich zur Zeit der langen Winter, da hauste ein Mann auf einem Hofe am Rande des Dörfchens Trollhaupt. Der Name dieses Mannes war Skjor, nach seinem Vater und dessen Vater benannt. Er lebte dort nun mit seiner Tochter Halva, die er über alles liebte in dieser Welt, nachdem seine Frau im Kindbette verstarb. Die Dörfler sagten, ein Mädchen wäre nicht genug in dieser kalten, kargen Welt – ein Mann brauche einen Sohn, der ihm Arbeit abnimmt und seinen Namen weiterträgt! Skjor war das freilich egal – seine Tochter half stets im Hause, wo sie nur konnte, und ihr Vater hatte Kraft für drei Männer auf dem Felde. Und sein Name gehöre nur ihm selbst.

So hätten Skjor und Halva sicherlich in Frieden leben können, wie es allen Göttern für uns Menschen gefällt, hätten sie doch nur nicht in Trollhaupt gelebt. Denn von ungefähr kam der Name des beschaulichen Dörfchens nicht. In diesen Tagen vergangener Zeit, in denen die Winter noch länger und die Winde kälter waren, schlichen sich in der Abenddämmerung, wenn Nebel aufzog desöfteren Trolle hinunter aus dem Gebirge. Und wie es die Natur dieser bösartigen Heimsuchung ist, stahlen sie sich Vorräte und Vieh vom Hof und auch Menschen, wenn sie ihrer habhaft werden konnten.

So nahm das Unglück für Skjor und Halva seinen Lauf. Denn in einer Nacht, als Halva keinen Schlaf finden mochte hörte sie, wie der Hund auf dem Hof gar jämmerlich winselte. So ging sie hinaus, um das brave Tier zu finden und sich seiner anzunehmen, denn sie hatte den Hund sehr gern – und Halva trat in den Nebel und nahm ihn an der Leine. Doch ließ sich das Tier nicht beruhigen, und weil Halva so auf den Hund an der Leine achtete, sah sie das Unheil nicht kommen. Drei Trolle, gebückte, feiste Gestalten mit einer Haut wie alter Schlamm und kleinen, glimmenden Augen, traten aus dem Nebel. Sie erschlugen das brave Tier, das sich vor Halva stellte und tapfer den Kampf mit den Unholden suchte – und die arme Halva banden sie kurzerhand auf den Rücken und verschleppten sie.

Dazu muss man wissen, dass es für Trolle nichts besseres gibt, als einen Menschen zu bekommen. Denn Trolle fressen am liebsten Fleisch, und das eines Menschen – noch dazu das eines jungen Mädchens – mundet ihnen am Besten. Als die fürchterlichen Schöpfungen die sie sind, sotten sie einen Menschen bei lebendigem Leibe in Öl, braten ihn am Stück, oder legen in – nachdem sie ihm den Schädel eingeschlagen haben – in Honigkruste ins Feuer.

Man mag sich nun die Verzweiflung Skjors gar nicht vorstellen, als er am nächsten Morgen seine Tochter nicht fand, dafür den erschlagenen Hund und die Fußspuren der Trolle, die in das Nebelgebirge führten, wo sie ihr grausiges Heim im tiefen Fels fanden. Bei den Ältesten des Dorfes suchte er Rat – er wollte in’s Gebirge und seine Tochter holen. Doch die weisen Männer seines Dorfes waren Feiglinge, allesamt wie der Rest der Siedler, die Skjor einfach nur rieten, sich ein neues Weib zu nehmen und einen guten, starken Sohn zu zeugen. So fasste sich Skjor in seinem Mut ein Herz und ging selbst und allein in die Berge. Er packte sich ein Bündel und seine Axt, hüllte sich in Felle und zog von dannen, den Schwur auf den Lippen, nicht eher zurückzukehren als dass er seine Halva gefunden, oder bei der Suche gestorben sei.

Andernorts mag diese Sage nun einen guten Ausgang genommen haben, mag man lesen von der Liebe eines Mannes zu seiner Tochter, die ihm Bärenkräfte lieh und ihm ermöglichte, die Trolle zu erschlagen und sein Fleisch und Blut zu retten. Er käme zurück und wäre auf immer geachtet und glücklich. Doch diese Geschichte spielt im Norden. Und Geschichten im Norden enden meist tragisch.

Es fehlte Skjor nicht an Liebe zu seiner Tochter, und auch Bärenkräfte hatte er, konnte er doch einen Baum schneller fällen als jeder andere Mann. Und auch erschlagen hat er die Trolle allesamt, die seinen Weg kreuzten – er ließ sich nicht von Müdigkeit, nicht von Schmerz und nicht von Leid von seinem Pfad abbringen. Doch am Ende lachte ihm das Schicksal in’s Gesicht. Er sollte nur noch die Gebeine seiner Tochter finden, aufgebrochen und bis auf das Mark ausgesaugt. So sank Skjor am Gipfel des Trollhaupts in sich zusammen und weinte fürchterlich, bis seine Tränen auf seinen Wangen gefroren und seine Trauer zu Hass wurde. Seine Hand schloss sich noch einmal um den Stiel seiner Axt, und noch einmal leistete er einen Schwur: Trolle zu jagen und nicht zu ruhen, bis er nicht wenigstens einhundert von ihrem elenden Leben befreit habe. Und so geschah es – kein Feind konnte ihm gleichkommen, jeden Troll den er fand, tötete er und nahm seinen Schopf als Zeichen des Triumphs. Er ging durch den Nebel und wurde ein Schrecken für die Schrecklichen. Doch nicht nur für sie. In den Jahren der Einsamkeit und Trauer, dem Gram über Halva, verlor Skjor sich in der Wildnis des Gebirges. Wanderer und Jäger berichteten von Zeit zu Zeit von einem wilden Schemen, einem Berserker, der in den Wäldern hauste und unter sie fuhr – sie anbrüllte er ließe sie Büßen für seine Tochter. Skjor unterschied nicht länger zwischen Mensch und Unhold.

So nimmt man sich noch heute in Acht, wenn man nahe des Dorfes Trollhaupt am Fuße des großen Berges weilt: Vor den Trollen in Nacht und Nebel – und mehr noch vor dem ruhelosen Wahnsinn, der ihnen folgt und sich in ihre Häute und Schöpfe kleidet. Auf das niemand seine Rolle in dieser Geschichte widerfinden mag.

Denn dies ist eine Geschichte des Nordens. Und Geschichten des Nordens enden tragisch.“

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