Die Sage Aetjôru

Viele Sagen ranken sich um die älteste Stadt unseres Reiches, die Namensgeberin des Landes zwischen Nebelgebirge und dem Södrasjön. In der Königstadt soll es eine alte Vettel geben, die in Händen die Zukunft zu lesen vermag – eine Weissagerin des alten Geschlechts. Man will Gestalten mit leeren Augen gesehen haben, die für einen Preis ihrer Wahl jedwedes Problem ihres Auftraggebers lösen können sollen – noch nie wurde jemand mit ihnen glücklich. Diese Stadt bietet laut geschwätzigen Seemännern Kobolde, den Klabautermann, eine tote und wunderschöne Frau, die des nachts Matrosen verführt, in den dunklen Gassen sollen Aufhocker lauern und schlimmeres in den Gräben unter der Oberstadt. Zwischen all diesen Phantasmen gibt es eine Sage, von der ich weiß, dass sie wahr ist: Die Bibliothek der Nacht. Ein theatralischer Name für eines der größten Wunder unserer Zeit – König Hatvar ließ in seinen Tagen, nachdem die Vernichtung Noras‘ durch Bregor Iysenfall und die aufständischen Jarls abgewendet war, einen unterirdischen Komplex in Auftrag geben, in dem der Verstand, das Herz und die Seele des Reichs verwahrt werden sollte. Die Bibliothek umfasste anfangs ein paar Dutzend Bücher, wuchs jedoch schnell zur größten Schriftensammlung der bekannten Welt. Seit der Priester Gjerman Haralson die Leitung der Bibliothek übernommen hat, ist es Gesetz, dass kein Licht ihre Räume erhellen darf – zur Schonung der ältesten Schriftstücke wurden sogar Kopien angefertigt, die statt ihrer Originale eingesehen werden sollten. Das mit Sicherheit wertvollste aller einsehbarer Werke der Katakomben unter dem Königspalast durfte ich in Händen halten – das eigentliche Wunder der Bibliothek. Ein Schriftstück, dessen Verfasser lange vor der Besiedlung der Halbinsel Noras verstorben war. Ein Zeuge der alten Tage, ein Begleiter unserer Vätersväter – Vorbote von dem, was da noch kommen sollte.

Wir haben es einem klugen, heute namenlosen Mann zu verdanken, dass die alte Schrift den Wandel der Zeit und der Sprache für uns verständlich überstanden hat.

Aus „Het garman Aetjôru“, Urfassung geschätzt zwischen den Jahren 150 und 200 vor der Besiedlung von Noras, eine Sammlung von Schriften über Vorfälle auf den östlichen Inseln:

„Sie lachen über mich. Sogar der Prior vermag nicht zu sehen, was für den Götterfürchtigen offenkundig ist. Die Fehlgeburten im Dorf, der Brand im Kloster, das Verschwinden von Bruder Jorvik, die Missernte und die verdorbenen Fänge auf See. Sie lachen darüber, sie lachen über die alten Prophezeihungen, über die Worte der Götter. Ich weiß es besser. Ich höre zu. Ich sehe. Die Wölfe kommen aus den Bergen, der Winter treibt sie herunter. Und die Dunkelheit folgt ihnen. Niemand, der noch klaren Verstandes ist, betritt noch den Wald, es verlässt ja nur noch der das Dorf, dem nichts anderes bleibt. Sie haben Angst. Sie fürchten sich. Weil sie sehen. Bauern, Metzger, Ziegenhirten und Ammen sehen mehr als die heiligen Männer unseres Ordens, die sie vor der Dunkelheit schützen sollen. Aber ich werde nicht schweigen, nicht wegsehen in Zeiten der Not. Belenor trug uns diese Pflicht auf und ich will sie erfüllen. Der Jarl ist nicht blind. Er weiß, was geschieht. Er weiß, dass Menschen verschwinden – manche freiwillig, viele nicht. Morgen werde ich ihn besuchen – ich hoffe, er ist vernünftiger als Vater Ansgar.

Heute Nacht war jemand hier. Er hat etwas gesucht – und dabei die Federkiele auf dem Tisch verrückt. Es fehlt nichts. Kein Blatt Papier, keine Kleinigkeit ist abhanden gekommen. Aber es war jemand hier. Die kleine Ingrid wurde heute morgen gefunden. Sie ist letzte Woche verschwunden – Ansgar und Jorâ haben sie tagelang gesucht, ich erinnere mich gut. Sie war ihre kleinste Tochter. Sie hing in einer Linde, einen Strick um den Hals.

Der Prior sprach sein Beileid aus und lies die Beisetzung vorbereiten, die ich heute durchführen soll. Er sprach von großem Unglück und unserer Pflicht, den Hinterbliebenen in dieser Not beizustehen. Dass Wölfe keine Stricke knoten können, das sagte er nicht. Die Eltern werden Ingrid vorbereiten für den Abend, wenn ich die Gebete spreche. Jorâ gibt sich sehr viel Mühe, sie gut herzurichten. Ich weiß nicht, wie ich ihr sagen soll, dass wir ihre Tochter mit dem Gesicht zur Erde bestatten müssen.

Der Jarl war heute nicht zu sprechen – er vertröstete mich auf einen geeigneteren Zeitpunkt. Ich hatte den Eindruck, er wüsste, was ich ihm sagen will. Immerhin schickt er Männer, die den Wald durchsuchen sollen. Gute, starke Kämpfer. Ich werde für sie beten. Am Abend hörte man Wölfe heulen und sah einen roten Mond hinter fahlen Wolken. Die Götter schreien uns an und wir sind taub.

Schon wieder war ich nicht allein des nachts. Ich weiß nicht, wie sich jemand in meinen Raum schleichen kann – ich habe einen leichten Schlaf und der Boden knarrt unbeschreiblich. Tinte war verschüttet. Nicht über wichtige Schriften, den Göttern sei Dank, doch muss ich nun den Tisch schrubben. Es ist seltsam, es macht keinen Sinn – ich habe nichts, das meine Brüder begehren könnten. Ich werde meinen Raum heute Nacht verschließen.

Heute sollte ich mit Bruder Hjergen den Garten bestellen – er erzählte mir von Bruder Bran, der Wache am Grab von Ingrid hielt. Der gestand zu seiner Schande ein, einige Minuten die Augen geschlossen gehabt zu haben, tief geschlafen habe er allerdings nicht. Als er mit einem Schreck die Augen aufriss, sah er, dass die Erde des Grabes aufgewühlt war. Jemand hatte mit seinen Händen gegraben. Ingrid könnte es nicht einmal gewesen sein, wenn sie eine Wiedergängerin geworden wäre – wir banden sie und trafen alle Vorkehrungen. Jemand hat versucht, sie auszugraben. Prior Uthgar meinte, wir sollten uns nicht verrückt machen und dass es ein kleines Tier gewesen sein muss. Er verdonnerte Bruder Bran dazu, die Werke von Jens Sodarson zu kopieren und sich dabei an seine Pflichten zu erinnern. Aber ich sehe in den Augen einiger meiner Brüder den Zweifel keimen. Endlich.

Es passiert. Ich hatte Recht. Meine Kammer war noch verschlossen, als ich erwachte. Und doch hatte sie wieder jemand betreten. Die Werke von Godan Hrothgarson lagen aufgeschlagen auf meinem Tisch – im Kapitel der Vorzeichen. Ein Satz war ausgeblichen, als sei jemand immer wieder mit dem Finger darübergefahren: „Denn wenn ihr euch ihrer gewahr werdet, seid ihr bereits verloren – dann seid ihr bereits Zeugen jener Zeichen, die Dómsdagûr voraus schreiten.“

Ich suchte den Jarl auf. Ich ließ mich nicht abwimmeln, bis ich zu ihm gelassen wurde. Und ich berichtete. Und er wusste es bereits. Nur einer seiner Männer war aus den Wäldern zurückgekehrt. Schrecklich verwundet berichtete er von Schatten in der Dunkelheit. Und von einem Spiel ohne Regeln. Dann starb er. Jarl Gutram ist ein Mann, den ich bewundere, das scheue ich nicht zu sagen. Er ließ das Dorf abriegeln, verfügte, dass die Feuer nun Tag und Nacht brennen sollten, dass niemand mehr allein sein dürfe. Auch Prior Uthgar musste nun einsehen, dass das Schicksal uns auserkoren hatte. Man fand ihn fortan nur an der Seite des Jarls. Heute sprach ich die Worte zur Nacht gemeinsam mit Bruder Jens. Keiner schlief mehr allein in seiner Kammer.

Hände an meinem Hals. Ich spürte sie ganz deutlich. Kalte Hände an meinem Hals. Ich fuhr auf, schrie. Ich stand neben meiner Lagerstatt, mein Messer in der Hand, an meiner Seite Bruder Jens. Und wir waren allein, die Tür abermals verschlossen. Sofort sprachen wir die heiligen Verse, die das Dunkel vertreiben sollen. Der Prior zeigte sich besorgt und versprach, die Kammer eines jeden zu weihen, bevor die Nacht anbricht. Kjela, die Frau des Gerbers, wurde am Fluss gefunden. Ich kannte sie noch als hübsche, junge Frau – jetzt sah sie aus wie ein altes Weib. Ihr Haar war ergraut, ihre Haut lag in Falten und ihre Augen starrten blind in den Himmel. Das Grab von Ingrid fanden wir leer. Die Fesseln gelöst. Die Hühner von Arid und Hagen waren geschlachtet und zerfetzt. Zum Abendgebet fehlten fünf Brüder – ihre Kammern waren leer, das Hab und Gut mit ihnen verschwunden. Ich konnte es ihnen kaum übel nehmen.

Die Nacht war ruhig. Wir erwachten im Licht des vollen Tages und fanden alles so, wie es sein sollte. Niemand war hier gewesen. Im Dorf verhielt es sich genauso. Der Prior nutzte die Ruhe und weihte alle Häuser, alle Tore, alle Menschen. Er nahm alle Brüder des Klosters zu Hilfe. Er nahm das Ganze ernst.

Noch eine ruhige Nacht. Ein ereignisloser Tag, die Leute beginnen wieder zu arbeiten.

Wir hoffen. Nichts ist geschehen, schon seit einigen Tagen nicht. Es scheint überwunden – den Göttern sei Dank. Heute feierten wir ein großes Fest zu Ehren unserer Schöpfer und des Göttervaters. Es tat gut, das Dorf wieder lachen zu hören.

Wir schlafen wieder in getrennten Kammern, alles kehrt zur Normalität zurück. Bruder Berengar, einer der fünf, die Reißaus nahmen, ist zurückgekehrt. Er habe in den nächsten Ortschaften gehört, dass die Gefahr vorüber sei, und bat um Wiederaufnahme. Der Prior gewährte sie ihm und mahnte ihn zur Beständigkeit.

Der Prior ist tot. Wir fanden ihn im Hof, ertrunken in einer zweifingertiefen Pfütze. Die Sorge ist wieder bei uns eingekehrt. Bruder Vrengar wurde zum neuen Prior bestimmt. Er ist sichtlich bemüht, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Er besprach sich lange mit dem Jarl. Beide mahnten zur Vorsicht.

Heute Nacht hörte ich ein Kratzen an meiner Tür. Sie sind wieder da. Ich sprach alle Gebete, die ich kenne, ich schrie so laut ich konnte, um meine Brüder zu warnen. Ich bin dem nicht gewachsen, ich fürchte mich. Sieben meiner Brüder erwachten nicht an diesem Morgen. Sie wurden in ihren Betten erstochen. Den wiedergekehrten Berengar fand man in einem Korridor – seine Zunge wurde ihm herausgeschnitten. Ihm fehlten beide Hände und er wurde geblendet. Wir schlafen wieder zu zweit in einer Kammer. Aber ich will nicht schlafen.

Heute Nacht haben sie ihre Ernte eingefahren. Zwei Familien aus dem Dorf sind verschwunden. Ihr Hab und Gut ist zurückgeblieben. Schleifspuren führen aus dem Dorf in den Wald. Das Vieh ist geschlachtet. Der Jarl lässt das Dorf abriegeln. Seine Männer teilen sich die Wachen – niemand denkt ernsthaft darüber nach, die beiden Familien suchen zu lassen. Ich höre Geräusche in der Dunkelheit. Heute Nacht werde ich wach bleiben.

Vater Vrengar macht seine Sache gut. Er weihte abermals alle Kammern, sprach mit uns noch einmal alle Gebete gegen das begehrende Dunkel. Ich traf meine eigenen Vorkehrungen und kaufte mir beim Schmied ein Beil, das in dieser Nacht auf dem Tisch in meiner Kammer liegt. Bruder Jens und ich wechseln uns mit den Wachen ab – wir sind uns einig, dass wir nicht beide schlafen sollten. Tatsächlich schlief keiner von uns. Nach Mitternacht hörten wir die Wölfe wieder. Sie heulten und schrieen fürchterlich – und es klang so nah! Sie müssen bis vor das Dorf gedrungen sein. Ich will nicht daran denken, was sie aus dem Wald getrieben haben muss. Am Morgen wurde die Torwache als vermisst gemeldet. Jeder wusste, was das heißt. Vater Vrengar und der Jarl Gutram sind mutige Männer. Sie waren sich einig, dass das Warten unsere Chancen nicht erhöhen wird – heute gingen wir vor die Tore des Dorfs und hingen geweihte Symbole der Götter in die Weiden

 

Der Rest des Textes ging verloren.

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