Die Hexe von Hósavik
Aus „Die Lehren der geweihten Männer von Híminrônd“, zusammengetragen von den Brüdern Leif und Olaf Svenson, im Jahr 361 n.L.:
„(…) – so lehren uns doch die weisen Männer von Híminrônd, die im Dienste Belenors, des großen Vaters, stehen, wie zu verfahren ist mit der Dunkelheit. Und sie erzählen uns die Geschichte der Hexe von Hósavik, bei warmem Feuer und rotem Wein, bei heißem Brot und frischem Fisch. Denn die göttlichen Gesetze des Herdes und der Gastlichkeit wurzeln tief in den frommen Hallen derer, die die ersten Streiter gegen das begehrende Dunkel sind.
In dem kleinen Fischerdorf Hósavik lebte einst ein Mann mit seiner Frau. Und der Mann hieß Ranulf, und die Frau hieß Ingrid. Und die beiden liebten sich sehr. Ranulf war Fischer, und er fuhr jeden Tag an dem das Wetter es zuließ aufs Meer um sie zu versorgen, während Ingrid sich um den Garten kümmerte. Die Krönung ihrer Liebe war ihre Tochter Astrid, die in den ersten Tagen des neuen Jahres geboren wurde. Doch Weh!- was heute jedes Kind schon lernt, war zu diesen jungen Zeiten nicht allzu weit bekannt: Heute gehen Belenors Wanderpriester über Städte und Dörfer und verkünden die Gefahren der Vondur, den Schatten im ewigen Streit mit der Götter Schöpfung, und Dómsdagur der dunklen Zeit, die sie heraufbeschwören. Heute weiß doch ein jeder, dass ein Kind das frisch geboren noch in der selben Stunde zu einem Priester gebracht, oder zumindest mit Zeilen der göttlichen Schrift belesen werden muss – denn seine kleine Seele kann sich dem dunklen Einfluss der Schatten nicht erwehren. Ranulf und Ingrid nun lebten abseits aller großen Wege und Städte, denn Hósavik liegt auf der Bäreninsel, und wussten von alledem nichts. So gaben sie unbedarft das reine Licht Astrids, ihrer geliebten Tochter, den Vondur zur Speise. Und die Schatten verdarben das kleine Kind zu einer ihrer Diener, ohne dass die arme Astrid sich dessen je bewusst war.
Als Säugling noch macht- und nutzlos für die Vondur, zeigte sich Astrids Verderbtheit langsam und heimlich in ihrer Kindheit. Einem Vogelküken, welches aus dem Nest gefallen war, drehte sie den Hals herum – dem Hofhund mischte sie Holzsplitter in’s Futter und die Netze ihres Vaters schnitt sie an. Ranulf und Ingrid bemerkten dies jedoch nicht und sahen das drohende Unheil nicht kommen. Bis eines Tages die Dunkelheit in Astrid Überhand nahm – als ihre arglose Mutter die Kräuter im Garten sähte und ihre eigene Tochter sie hinterrücks mit dem Spaten erschlug. Danach schritt Astrid ruhigen Schrittes zum Strand, wo ihr Vater Netze knüpfte. Gemeinsam mit ihm besah sie sich das Meer und hörte ihn sagen, wie schön er es finde, wenn das Wasser so leer und ruhig sei wie heute. Als dann ein Fischerboot am Horizont auftauchte, zog Astrid ihre Stirn in Falten – als das entzwei gerissene Wesen, das die Schatten erschaffen hatten und aus fehlgeleiteter Liebe zu ihrem Vater, erhob sie die Hand und beschwor Kraft der unheiligen Macht, die ihr zuteil wurde, einen Ostwind, der den armen Fischer an den Felsen zerschellen ließ. Als Ranulf sie entsetzt fragte, was sie da getan habe, antworte sie, dass der Fischer seinen schönen Anblick zerstört habe. Da endlich begriff Ranulf. Und er nahm seine Tochter mit auf See, verbrachte einen letzten Tag in Liebe zu dem Wesen, das er gezeugt und genährt hatte. Und als er sie ein letztes Mal in die Arme schloss, rannen ihm Tränen über sein Gesicht. Den erschlafften Körper Astrids trug er dann an den Strand, wo er sie begrub.
Doch als er in sein Heim zurückkehrte, um mit seiner lieben Ingrid zu trauern und ihr zu berichten, was er gezwungen war zu tun, da sah er das ganze Ausmaß seines Unglücks. Und er trug auch seine Frau unter Klagen an die See und begrub sie neben seiner Tochter. Dann trat er wieder in sein Heim, packte das Nötigste und warf einen brennenden Scheit ins Gebälk – denn an diesem Ort wollte er nicht länger leben. Auf seinem Weg ließ er den alten Hund von der Kette, der ihm fortan folgte auf seinem Weg ins Kloster Falengrab, wo er sich den Lehren Belenor’s anschloss um für sein Unwissen Buße zu tun und das Wissen um die Dunkle zeit in die Welt zu tragen.
Über die Jahre hinweg wurde er bekannt als Bruder Ranulf der Wanderer, doch nie vergaß er, nie vergab er das Geschehene. Und nichts konnte seine Trauer lindern.
Und so lehren uns die weisen Männer von Híminrônd, stets zu achten auf die Zeichen der dunklen Zeit, unsere Liebsten und uns selbst im Angesicht des Vaters weihen zu lassen und im Zweifel einen heiligen Mann zu Rate zu ziehen. Denn die Dunkelheit kann nicht bestehen vor dem Licht.“